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Von der Fehlerkultur zur Lernkultur: Wie Human & Organizational Performance (HOP) den Arbeitsschutz transformiert

Modernes Arbeitsschutzmanagement mit Human & Organizational Performance (HOP)

Der Arbeitsschutz hat in den letzten Jahrzehnten einen tiefgreifenden Wandel durchlaufen. Standen früher vor allem technische Schutzvorrichtungen, das Einhalten gesetzlicher Normen und die Schulung der Mitarbeitenden im Umgang mit Gefahrenquellen im Mittelpunkt, hat sich der Fokus zunehmend auf die systemischen und organisatorischen Aspekte des Arbeitsschutzes verlagert. Neue Denkansätze wie Human & Organizational Performance (HOP) rücken den Menschen als Kernfaktor für Sicherheit in den Vordergrund und betrachten Fehler und Abweichungen als unvermeidbare Begleiter komplexer Arbeitsprozesse.

HOP ist ein Konzept, das sich aus verschiedenen Disziplinen speist – darunter Verhaltenspsychologie, Systemtheorie und Sicherheitswissenschaften. Dabei zielt HOP darauf ab, Fehler als Symptom systemischer Schwächen zu verstehen und die Arbeitsumgebung so zu gestalten, dass menschliches Versagen möglichst selten auftritt bzw. dessen negative Auswirkungen minimiert werden. Diese Herangehensweise entspricht dem modernen Verständnis, dass Menschen in Arbeitsprozessen zwar stets versucht sind, „ihr Bestes“ zu geben, jedoch immer auch durch vielfältige Einflüsse (z. B. Zeitdruck, Komplexität, unvollständige Informationen) fehlbar bleiben.

In diesem Artikel wird dargelegt, was unter Human & Organizational Performance zu verstehen ist, wie dieser Ansatz in das moderne Arbeitsschutzmanagement eingebettet werden kann und welche konkreten Methoden und Instrumente sich bewährt haben.

Kerngedanken

Human & Organizational Performance (HOP) beschreibt einen Blick auf die Arbeitswelt, in dem das Verstehen von menschlichem Verhalten und organisationalen Dynamiken im Vordergrund steht. Es geht um die Erkenntnis, dass:

  1. Menschen fehlbar sind und Fehler unvermeidbar sind.
  2. Organisationen (Strukturen, Prozesse, Kultur) entscheidend beeinflussen, ob und wie Fehler entstehen.
  3. Lernen und kontinuierliche Verbesserung zentral sind, um die Leistungsfähigkeit eines Arbeitssystems zu erhöhen.

HOP ist eng verwandt mit Konzepten wie der High Reliability Organization (HRO), der Resilienz-Engineering-Theorie und dem Safety-II-Ansatz nach Erik Hollnagel. Allen gemeinsam ist die Grundannahme, dass wir Menschen nicht primär für Fehler „bestrafen“, sondern vielmehr das System so gestalten sollten, dass Fehler rechtzeitig erkannt und deren Folgen minimiert werden.

Unterschiede zum traditionellen Arbeitsschutzmanagement

Im traditionellen Arbeitsschutzmanagement wurden – und werden oft noch – viele Vorfälle isoliert betrachtet und die Ursachen primär dem individuellen Fehlverhalten zugeordnet. Im Fokus stehen (bzw. standen) hierbei häufig Sanktionsmechanismen, um Menschen „zum richtigen Verhalten zu erziehen“. HOP hingegen nimmt eine systemische Perspektive ein und fragt, warum Personen bestimmte Verhaltensweisen an den Tag legen. Die Analyse richtet sich somit auf die Einflüsse, die aus der Organisation, der Führung oder den Arbeitsbedingungen resultieren.

Wichtige Unterscheidungsmerkmale des HOP-Ansatzes:

  • Fehlerkultur: Fehler werden nicht als persönliches Versagen, sondern als lernrelevante Ereignisse verstanden.
  • Prozessorientierung: Man analysiert die Prozesse und Rahmenbedingungen, die ein fehlerhaftes oder riskantes Verhalten begünstigen.
  • Transparenz und Lernen: Offene Kommunikation und aktive Förderung einer Fehler- und Lernkultur.

Wesentliche Prinzipien von HOP

Menschen sind fehlbar

Zentral in HOP ist die Einsicht, dass Menschen nicht „perfekt“ sind. Fehler sind nicht nur wahrscheinlich, sondern unvermeidbar. Damit wird ein Paradigmenwechsel eingeleitet: weg von der Illusion, es ließe sich durch Kontroll- und Regelinstrumente ein komplett fehlerfreies Arbeiten erzwingen, hin zu der Frage, wie das System gestaltet sein muss, um Fehlerfolgen zu begrenzen und frühzeitige Korrekturen zu ermöglichen.

Lernorientierung

Fehler werden im HOP-Ansatz als Chance begriffen, die Organisation zu verbessern. Jeder Vorfall, aber auch Beinahe-Unfall (Near Miss), kann wertvolle Erkenntnisse liefern, wie Arbeitsbedingungen sicherer gestaltet werden können. Dafür braucht es eine offene Fehlerkultur, in der Mitarbeitende ohne Angst vor negativen Konsequenzen über Fehler berichten und gemeinsam an Lösungen arbeiten.

Komplexität und Variabilität anerkennen

Hochkomplexe Arbeitsprozesse lassen sich nicht mit simplen Regeln beherrschen. HOP versucht, Variabilität in Arbeitssystemen zu reduzieren oder gezielt zu managen, sodass Abweichungen vom Soll-Zustand erkenn- und bewältigbar werden. Es müssen Mechanismen geschaffen werden, die auch bei unvorhergesehenen Ereignissen robust sind und sich flexibel anpassen lassen.

Führung und Organisationskultur

Ein zentrales Element in der HOP-Philosophie ist die Rolle der Führungskräfte und der Organisationskultur. Führungskräfte setzen die Rahmenbedingungen, gestalten Prozesse und beeinflussen das Verhalten ihrer Teams maßgeblich. HOP erfordert daher eine verteilte Verantwortung für Sicherheit: Jeder Mitarbeitende übernimmt Verantwortung für sich und andere, aber die Organisation sorgt dafür, dass Fehlverhalten nicht „abgestraft“ wird, sondern im Sinne des Lernens verstanden wird.

Methoden und Instrumente im HOP-basierten Arbeitsschutzmanagement

Präventive Gefährdungsbeurteilung mit Fokus auf menschliche Faktoren

In vielen Branchen ist die Gefährdungsbeurteilung ein rechtlich vorgeschriebenes Element des Arbeitsschutzes. Häufig wird sie allerdings nur als formaler Akt verstanden, bei dem technische oder physische Gefahrenquellen identifiziert werden. Im HOP-Ansatz fließen hier zusätzlich menschliche Faktoren ein: Welche Rolle spielen Stress, Zeitdruck, Informationsmängel oder unklare Arbeitsaufträge? Wie ist das Zusammenspiel innerhalb des Teams? Gibt es potenzielle Fehlanreize, die zu riskantem Verhalten führen können?

Checkliste beispielhafter Fragestellungen:

  • Welche (unrealistischen) Erwartungen setzt das Management an das Arbeitstempo?
  • Sind die Mitarbeitenden in genügendem Maße geschult und informiert?
  • Werden Teammitglieder dazu ermutigt, „Stop“ zu sagen, wenn eine Situation unklar oder unsicher ist?

Vorfallanalyse: Vom Individuum zum System

Kommt es zu einem Unfall oder Beinahe-Unfall, setzt HOP auf systemische Vorfallanalysen, die den Ursachen auf den Grund gehen. Im Mittelpunkt steht dabei das „Warum?”: Warum hat ein Mensch in dieser spezifischen Situation so gehandelt? Welche organisatorischen, technischen oder kulturellen Einflüsse waren ausschlaggebend? Ein beliebtes Modell in diesem Kontext ist das „Swiss-Cheese-Modell“ nach James Reason, das aufzeigt, wie sich multiple Sicherheitsbarrieren in einem komplexen System verhalten und an welchen Stellen Schwachstellen liegen.

Anstelle der klassischen „Fehlersuche“ bei Einzelpersonen werden in der HOP-Methode bei jedem Vorfall die Prozessschritte und systemischen Faktoren betrachtet. So lassen sich Schlüsse für die Gestaltung von Arbeitsabläufen, für Trainingsmaßnahmen und für die Anpassung der Sicherheitskultur ziehen.

Learning Teams und Just Culture

Ein wichtiger Baustein für die Weiterentwicklung des Sicherheitsniveaus sind Learning Teams. Dabei wird ein Vorfall (oder eine neue Sicherheitsherausforderung) mit den beteiligten Personen und weiteren Expert*innen in einem offenen Format aufgearbeitet. Es geht nicht darum, Schuldige zu identifizieren, sondern kollektive Lerneffekte zu generieren. Das Format wird in einer Atmosphäre der „Just Culture“ geführt, also einer Kultur, in der Offenheit und Vertrauen gefördert werden – mit klaren Grenzen hinsichtlich grob fahrlässigen oder vorsätzlichen Verhaltens.

Grundprinzipien der Learning Teams:

  1. Vertrauen und Offenheit: Alle Teilnehmenden können frei sprechen.
  2. Systemischer Fokus: Analyse der Umstände und Rahmenbedingungen.
  3. Konstruktive Lösungsfindung: Gemeinsame Ableitung von Maßnahmen.

Mentale Modelle und Safety Behaviour

Menschliches Verhalten wird stark von mentalen Modellen und unbewussten Überzeugungen gesteuert. Im HOP-Ansatz geht es daher darum, Sicherheitsbewusstsein nicht nur über Regelwerke zu implementieren, sondern durch das Verständnis für Zusammenhänge und Einflussfaktoren zu fördern. Schulungen und Trainings vermitteln einerseits Fachwissen, andererseits aber auch die Fähigkeit, komplexe Situationen zu erfassen und sichere Entscheidungen zu treffen.

Implementierung im Unternehmen

Die praktische Einführung von HOP erfordert eine systematische Vorgehensweise. Oft geschieht sie in mehreren Stufen, damit sich die Organisation anpassen und das neue Verständnis von Sicherheit fest verankern kann.

Sensibilisierung der Führungskräfte

Da HOP einen Führungs- und Kulturwandel bedingt, ist es essenziell, dass das Top-Management und die Führungskräfte die Prinzipien verinnerlichen. Workshops, Coachings und Best-Practice-Beispiele sind hier hilfreiche Instrumente, um Akzeptanz und Motivation für den Ansatz zu schaffen.

Typische Inhalte von Führungskräfteschulungen zu HOP:

  • Grundprinzipien von HOP und „Just Culture“
  • Umgang mit Fehlern und konstruktives Feedback
  • Förderung von Sicherheit als gelebter Wert
  • Kommunikation und Konfliktlösung im Team

Anpassung von Richtlinien und Prozessen

Ein nächster Schritt ist die Integration der HOP-Prinzipien in Prozesse und Richtlinien der Organisation. Beispielsweise könnte das Unternehmen:

  • Seine Unfall- und Vorfallmanagement-Prozesse neu strukturieren, damit die Auswertung systemische Ursachen klar priorisiert.
  • Präventive Gefährdungsbeurteilungen stärker auf menschliche Faktoren ausrichten.
  • Anreizsysteme auf die Förderung von sicherem Verhalten und Meldungen von Beinahe-Unfällen ausrichten, statt nur auf Leistung oder Produktivität.

Kontinuierliche Kommunikation und Schulung

Ein tragendes Element für den Erfolg von HOP ist die Fort- und Weiterbildung der Belegschaft. Dies schließt sowohl klassische Sicherheitsunterweisungen als auch Schulungen zu Fehlerkultur, Teamdynamik, Kommunikation und Mentale Modelle ein. Die regelmäßige Kommunikation über interne Newsletter, Videobotschaften oder Projekt-Updates hält das Thema präsent und zeigt den Mitarbeitenden, dass das Management es wirklich ernst meint.

Pilotprojekte und schrittweiser Roll-out

Da HOP meist ein Kulturwandel ist, empfiehlt es sich, zunächst Pilotprojekte in ausgewählten Abteilungen oder Standorten zu starten. Dort kann man Erfahrungen sammeln, Tools erproben und ggf. Anpassungen vornehmen. Gelingt es, in diesen Pilotbereichen positive Ergebnisse (z. B. Rückgang von Sicherheitsvorfällen, Steigerung der Mitarbeiterzufriedenheit) aufzuzeigen, so lässt sich der Ansatz deutlich leichter auf das gesamte Unternehmen übertragen.

Nutzen und Chancen des HOP-Ansatzes

Die Rendite einer HOP-basierten Sicherheitskultur ist hoch, denn ein Unternehmen profitiert in vielfältiger Weise:

  1. Reduzierte Unfallzahlen: Durch systemische Fehleranalysen und einen proaktiven Ansatz sinken die Vorfallquoten.
  2. Höhere Mitarbeitermotivation: Wer sich sicher und wertgeschätzt fühlt, ist in der Regel motivierter und weniger krankheitsanfällig.
  3. Imagegewinn: Kunden und Partner schätzen Unternehmen, die verantwortungsbewusst und innovativ mit dem Thema Sicherheit umgehen.
  4. Langfristige Kostenersparnis: Weniger Unfälle bedeuten weniger Ausfallzeiten, weniger Regressforderungen, weniger Imageschäden.

Herausforderungen bei der Umsetzung

Trotz der erkennbaren Vorteile ist die Umsetzung des HOP-Ansatzes nicht immer einfach. Häufige Stolpersteine sind:

  1. Widerstände in der Führung: Manche Führungskräfte oder Management-Ebenen sehen es nach wie vor als wirksamer an, Mitarbeitende straff zu führen und Fehler hart zu sanktionieren.
  2. Fehlende Ressourcen: Eine gründliche Analyse und ein partizipatives Vorgehen kosten Zeit und Geld.
  3. Kulturelle Barrieren: Eine offene Fehlerkultur setzt ehrliche Kommunikation, Vertrauen und Mut voraus, was in manchen Organisationen nicht selbstverständlich ist.

Diese Herausforderungen lassen sich jedoch durch gezielte Change-Management-Aktivitäten, klare Kommunikation und Kontinuität erfolgreich meistern.

Ausblick und zukünftige Entwicklungen

Arbeitsschutz ist längst nicht mehr nur ein gesetzliches Muss, sondern zunehmend ein Wettbewerbsfaktor und Qualitätsmerkmal. Moderne Organisationen erkennen, dass Themen wie psychische Gesundheit, Gesundheitsförderung und Resilienz an Bedeutung gewinnen. HOP kann dabei helfen, dieses erweiterte Sicherheitsspektrum abzubilden, indem es die menschlichen und organisatorischen Aspekte ganzheitlich integriert.

Mit dem Vormarsch neuer Technologien wie künstlicher Intelligenz, Smart Safety Wearables oder Real-Time-Datenanalyse wird sich das Spektrum der präventiven Möglichkeiten weiter vergrößern. Trotzdem bleibt der Mensch ein entscheidender Faktor – und genau hier setzt HOP an: den Menschen nicht als Störfaktor zu sehen, sondern als entscheidende Kraft für Stabilität, Flexibilität und Lernen in komplexen Systemen.

Human & Organizational Performance (HOP) bietet einen ganzheitlichen, systemischen Ansatz für das moderne Arbeitsschutzmanagement. Im Mittelpunkt steht das Verständnis, dass menschliche Fehler unvermeidbar sind und dass Organisationen ihre Systeme und Kulturen so gestalten müssen, dass diese Fehler entweder verhindert oder ihre Auswirkungen minimiert werden. Damit stellt HOP einen wertvollen Paradigmenwechsel dar, der Unternehmen weg von einer einseitig defizitorientierten Fehlerbetrachtung hin zu einer Lern- und Verbesserungsorientierung führt.

Unternehmen, die HOP erfolgreich implementieren, schaffen nicht nur ein sichereres Arbeitsumfeld, sondern profitieren auch von motivierteren Mitarbeitenden, einer offenen Kommunikationskultur und einer erhöhten Wettbewerbsfähigkeit. Trotz anfänglicher Herausforderungen wie Widerstände in der Organisation, fehlenden Ressourcen oder kulturellen Barrieren, zeigt die Erfahrung, dass sich der HOP-Ansatz langfristig als äußerst rentabel und zukunftsweisend erweist.

Die Investition in Menschen, Prozesse und eine lernorientierte Fehlerkultur zahlt sich mehrfach aus: in höherer Sicherheit, besserer Qualität und letztendlich in einer nachhaltig erfolgreichen Unternehmensentwicklung.

Literatur und weiterführende Quellen

  • Conklin, T. (2019). Pre-Accident Investigations: Better Questions – An Applied Approach to Operational Learning. CRC Press.
  • Dekker, S. (2014). The Field Guide to Understanding ‘Human Error’. CRC Press.
  • Hollnagel, E. (2014). Safety-I and Safety–II: The Past and Future of Safety Management. Ashgate.
  • Reason, J. (1990). Human Error. Cambridge University Press.
  • Weick, K. E., & Sutcliffe, K. M. (2015). Managing the Unexpected: Resilient Performance in an Age of Uncertainty. John Wiley & Sons.
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